Luzian: Überflieger und Organspender
Mit 27 Jahren verunglückt Luzian mit dem Gleitschirm. Er überlebt den Unfall nicht. Seine Partnerin Lara erzählt, wie sie die letzten Stunden mit ihm am Spitalbett verbringt, wie die DCD-Organspende abläuft und wie es ihr heute geht.
Kennengelernt haben wir uns beim Churer Stadtfest. Wir waren sieben Jahre ein Paar, beide sportbegeistert. Luzian spielte Unihockey in der Nati A. Er war sehr risikofreudig, Klettern, Skitouren, Bergtouren und eben Gleitschirmfliegen. Gleichzeitg war Luzian auch ein sehr sozialer Mensch, die Familie – er hat zwei Schwestern, drei Nichten und einen Neffen – bedeutete ihm sehr viel. Für sie und für seine Freunde hat er alles gemacht. Luzian arbeitete als Elektriker und studierte in Buchs SG Photonics, eine Art Fachingenieur im Bereich Licht. Er kam vom Toggenburg, ich lebte noch bei meinen Eltern in Chur. In seiner damaligen WG sprachen wir schon über die Organspende, füllten beide ein Kärtli aus. Als wir beide fertig studiert hatten, zogen wir nach St. Gallen. Für mich war klar, dass wir zusammenbleiben, heiraten und Kinder haben. Ich war die strukturierte, der ruhende Pol, er der spontanste Typ auf Erden. Und doch konnte er sehr gut priorisieren und organisieren. Er hat jede Sekunde in seinem Leben genossen, hatte unzerstörbar viel Energie. Nach einem halben Jahr in unserer gemeinsamen Wohnung, es war ein Sonntag im Frühling, überlegten wir morgens im Bett, wie wir den Tag verbringen wollten: Erst zusammen Velo fahren, dann könnte Luzian am Nachmittag noch fliegen gehen und ich nähen und den Znacht vorbereiten. Die Wetterbedingungen waren perfekt.
Absturz mit dem Gleitschirm
Seit fünf Jahren flog Luzian Gleitschirm, gelernt hatte er es bei einem Englischaufenthalt in Kapstadt. Mich hat es nie gereizt, als Kopfmensch ist es mir zu unberechenbar, mir fehlt die Sicherheit. Aber Luzian hat es geliebt und ich wollte ihm nichts vorschreiben. Ich hatte sowieso mehr Angst vor einer Lawine. Er startet an besagtem Sonntagnachmittag von der Ebenalp im Alpstein. Um 15:30 Uhr fange ich an, mir Sorgen zu machen, es ist nicht Luzians Art, mir nicht Bescheid zu geben, wenn er sich verspätet. Ich versuche mich zu beruhigen, nehme an, dass er noch einen zweiten Flug angehängt hat. Alle 30 Minuten rufe ich ihn auf dem Handy an. Als ich auf dem Display den Namen seines Vaters sehe, ist mir klar, dass etwas passiert ist. Luzian touchiert eine Felswand, stürzt 50 bis 60 Meter in die Tiefe, rollt über ein Schotterfeld und landet schwer verletzt auf einem Wanderweg. Wanderer informieren sofort die Rega. Warum es zum Absturz kam, ist unklar, obwohl alles Material ausgewertet wurde, werden wir es nie wissen.
Irreparable Schädigung des Hirns
Luzian wird ins Kantonsspital St. Gallen (KSSG) geflogen. Am Telefon kann mir niemand über seinen Zustand Auskunft geben. Ich informiere meine Eltern, die sofort mit dem Auto von Chur nach St. Gallen aufbrechen. Mein Auto hat Luzian, es steht irgendwo bei der Ebenalp. Ich rufe nochmals im KSSG an, versuche meinen Bonus als Mitarbeiterin auszuspielen, dort arbeite ich bis heute als Physiotherapeutin. Die Kolleginnen möchten mir helfen, wissen aber nichts. Zwei Stunden höre ich nichts. Das war ganz, ganz schlimm. Kurz vor Mitternacht ruft mich die Neurochirurgin an. Sie hat versucht, die Schädeldecke zu entfernen, um den Druck auf das Hirn zu verringern. Um diese Operation überhaupt zu ermöglichen, musste man zuerst die Blutung im Bauchraum stillen. Das Hirn ist so geschwollen, dass es der Chirurgin förmlich entgegenspringt. Der Druck auf das Hirn ist zu gross, die Schäden sind massiv.
Achterbahn der Gefühle
Dann gehe ich mit meinen Eltern ins KSSG. Luzians Schwester reist von Zürich an, bringt den Vater vom Toggenburg nach St. Gallen, die Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Auf der Intensivstation informieren mich ein Arzt und eine Pflegefachfrau, dass Luzian noch lebt. Es gehe ihm kritisch. Ich schöpfe Hoffnung. Dann darf ich ins Zimmer zu Luzian. Ich bin froh, ihn zu sehen. Er hängt an den Maschinen, von aussen sieht man wenig, ein paar Kratzer. Ich habe noch Hoffnung, es sieht ja gar nicht so schlimm aus. Wut steigt in mir auf, Wut auf ihn, auf die Situation, Trauer, Angst. Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ein Mitarbeiter des Careteams kommt zu meinen Eltern, dann zu mir. Ich bin mit der Situation völlig überfordert. Im Aufenthaltsraum informieren uns der behandelnde Arzt und eine Intensivpflegefachfrau. Sie erklären gut verständlich, was alles passiert ist, wie der aktuelle Stand ist. Mehr können sie nicht sagen.
Hoffen und Bangen
Der nächste Besprechungstermin mit den Ärzten wird auf Montag, 11:00 Uhr, angesetzt. Meine Eltern, Luzians Vater und Schwester gehen in unsere Wohnung. Ich bleibe bei Luzian. Halte seine Hand und lege meinen Kopf auf seine Brust, so sind wir immer eingeschlafen. Der innere Dialog beginnt. Ich hoffe, dass er überlebt – obwohl er schwer beeinträchtigt sein würde. Ich hätte ihn unterstützt. Gleichzeitig war er so lebensfreudig, dass er nicht mehr er gewesen wäre. Ich weiss, dass er das nicht will: dahinvegetieren. Im IPS-Zimmer sind drei weitere Patienten, doch davon merke ich nichts. Die Pflege ist sehr fürsorglich zu mir, sie bringen mir immer wieder Essen und eine Zahnbürste. Ich schaffe nur eine Suppe. Am Montagmorgen gehe ich zu Fuss 15 Minuten nach Hause, will es mit mir ausmachen, grüble. Unsere gemeinsame Wohnung wird nie mehr die gleiche sein. Keiner der Familie hat geschlafen.
Aussichtslose Prognose gestellt
Um 11:00 Uhr werden wir von einer Ärztin informiert. Es sieht nicht gut aus. Die Computertomografie zeigt, dass ein Überleben sehr unwahrscheinlich ist. Das Hirn war zu lange nicht mit Sauerstoff versorgt und ist entsprechend geschädigt. Wir werden gebeten, uns Gedanken über eine Organspende zu machen. Ob wir Kenntnis darüber hätten, dass Luzian seine Organe spenden möchte? Wir gehen draussen etwas essen. Ich informiere die anderen, dass ich weiss, dass Luzian seine Organe spenden will. Sein Vater ist erstaunt über die Klarheit. Woher ich sie her nähme? Luzian hatte beim Verlust der Grosseltern und im Zusammenhang mit den Risikosportarten mehrfach mit mir darüber gesprochen. Seine Organspende-Karte finde ich am Abend und scanne sie fürs Spital ein. Alle sind mit der Organspende einverstanden. Wahrscheinlich wären wir als Angehörige auf den gleichen Nenner gekommen, wenn wir seinen Willen nicht gekannt hätten, weil er so sozial war. Der Gedanke hilft, dass man noch helfen kann mit der Organspende. Danach gehen wir alle wieder ins Spital und reden mit der Ärztin. Erst jetzt verstehen wir wirklich, dass die Prognose aussichtslos ist. Bis dahin haben wir alle noch Hoffnung, gehen vom Besten aus, wollen es nicht wahrhaben. Doch Luzian wird sterben. Das ist der Moment, in dem ich zusammenbreche. Im Rollstuhl werde ich ans Bett von Luzian gebracht.
Luzian will seine Organe spenden
Dienstag: Wieder kommt das Careteam zum Einsatz: Maja Franziska Friedrich ist Seelsorgerin des Spitals. Sie ist mein rettender Engel, spürt genau, was wir brauchen. Sie bringt Vorschläge, wie wir den Abschied gestalten könnten. Ich bitte sie, auch für meine Mama zu schauen, die ihrerseits alles tut, damit ich nicht vollends zusammenklappe. Der Entscheid für die Organspende ist gefällt. Iris Baasch, Organspendekoordinatorin des KSSG, betreut uns. Wir wissen, dass Luzian stirbt. Die medizinischen Abklärungen laufen. Welche Organe können gespendet werden? Swisstransplant teilt die Organe nach den gesetzlichen Vorgaben möglichen Empfängerinnen und Empfängern auf der Warteliste zu. Ich habe das Bedürfnis, die ganze Zeit bei Luzian zu bleiben. Ich schaue Fotoalben an. Lese ihm den Schluss des Buchs vor, das auf seinem Nachttisch liegt.
Endgültiger Abschied
Mittwoch, 09:00 Uhr: Alle dürfen dabei sein. Mit mir im Sterbezimmer sind meine Eltern, mein Bruder, Luzians Vater, dessen Partnerin, seine Schwester, meine beste Freundin, Maja Franziska und zwei Ärzte. Alle können den Raum verlassen, wenn sie es nicht mehr aushalten, draussen wartet eine zweite Person des Careteams. Die Beatmungsmaschine wird abgestellt. Maja Franziska singt für uns, setzt ein Aromaöl ein. Ich lege meinen Kopf auf Luzians Brust. Nach einer Stunde spüre ich, wie Luzian seinen allerletzten Atemzug nimmt. Ich weiss, er will gehen, er kann so nicht mehr leben. Es ist sein Entscheid. Die beiden Ärzte lassen uns nochmals einen Augenblick für den endgültigen Abschied. Sie führen anschliessend die Tests zur Bestätigung des Hirntods durch. Dann geht Luzian in den Operationssaal. Er kann seine Leber, beide Nieren und Inselzellen der Bauchspeicheldrüse spenden. Die Lunge ist durch den Unfall leider zu stark in Mitleidenschaft gezogen, das finde ich sehr schade, es wäre eine super Lunge gewesen. Sein Herz kann er nicht spenden, heute wäre das als DCD-Spender vielleicht möglich.
Die Amsel wird zum Adler
Ich will alleine sein, die Trauer der anderen vor dem Sterbezimmer ertrage ich in diesem Moment nicht. Maja Franziska begleitet mich auf ein Bänkli draussen. Sie macht mich auf eine Amsel aufmerksam. Ich denke an einen Adler. Als ich mich gefasst habe, gehen wir alle in einen Park, essen Brötchen und stossen mit Bier an. Es hat einfach gepasst. Nach der Operation erhalten wir einen Anruf: Wir können Luzian im Aufbahrungsraum des KSSG besuchen. Ich nutze jeden Moment. Familie, Freunde, Arbeitskollegen können sich danach während drei Tagen im Aufbahrungsraum beim Friedhof von Luzian verabschieden. Dann kommt der mühsame Teil: planen, organisieren, Auto suchen, Krematorium, Abdankungsfeier überlegen.
Trauern und Antwort auf das Warum
Die offizielle Abschiedsfeier findet im Toggenburg statt, vor dem idyllisch gelegenen Elternhaus von Luzian, mit Sicht auf die Churfirsten. Der Pfarrer kennt Luzian gut, er hat ihn konfirmiert. Den anderen Teil der Asche verstreuen wir bei einer weiteren Feier auf der Speerspitze in den Appenzeller Alpen. Alle bringen einen Stein mit, wir formieren ein Steinmännchen, die Frau von Luzians Cousin spielt Querflöte, Kuchen wird gereicht. Die Warum-Frage habe ich für mich beantwortet: Jeder Mensch hat einen Punkt A bei der Geburt und einen Punkt Z, an dem er stirbt, und das ist bei jedem bestimmt. Es gibt einen Plan. Luzian hat sein Leben mit jeder Faser gelebt und geliebt, 27 intensive Jahre.
Weg zurück ins Leben
Ich habe meinen Weg gefunden. Habe aktiv getrauert, immer wieder Fotos angeschaut, Orte aufgesucht. Ich bin immer noch Teil seiner Familie, habe sein Gottemeitli «übernommen». Es ist für alle ein grosser Verlust, nicht nur für mich. Alle haben mich sehr unterstützt. Mehr als ein Jahr lebte ich noch in der gemeinsamen Wohnung in St. Gallen. Dann war es Zeit, zu gehen. Luzians Vater ist inzwischen auch gestorben. Seit letztem Oktober lebe ich in Luzians Elternhaus – alleine, hier wollten wir irgendwann zusammen einziehen. Nun habe ich es zu meinem Zuhause gemacht – es ist mein Rückzugsort, mein Kraftort. Diesen Frühling habe ich mit Silvana, Luzians jüngerer Schwester, eine vierwöchige Reise nach Nepal unternommen, die sie ursprünglich mit Luzian geplant hat. Die Reise brachte mich nochmals einen Schritt weiter. Ich spürte, dass ich bereit bin und mein Herz gross genug ist für eine neue Beziehung. Und alle freuen sich mit mir.