10 Fragen an PD Dr. Raphaël Giraud, Netzwerkleiter Organspende Romandie/Tessin (PLDO)
Technische Entwicklungen in der Intensivmedizin ermöglichen es, den Organspendewunsch auch nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand zu erfüllen und die Qualität der entnommenen Organe zu verbessern. Der Leiter PLDO malt sein Zukunftsbild und erzählt von seiner Frau, die dank einer Lebertransplantation lebt.
Herr Dr. Giraud, haben Sie Verständnis dafür, wenn jemand Nein zur Organspende sagt?
Ja, die Leute haben das Recht, Nein zur Organspende zu sagen. Auch mit der zukünftigen Einführung der erweiterten Widerspruchsregelung bleibt die Organspende freiwillig. Allerdings gehe ich davon aus, dass der Systemwechsel zu mehr Organspenden führen wird, weil in den Familien mehr diskutiert wird.
Bedeuten mehr Diskussionen mehr Zustimmung zur Organspende?
Ja, in vielen Fällen schon. Wir haben zurzeit zu viele Familien, die keine Ahnung über den mutmasslichen Willen der verstorbenen Person haben und daher deren Spendewunsch nicht berücksichtigen. Ich bin überzeugt, dass das besser wird, weil künftig grundsätzlich die ganze Bevölkerung ab dem 16. Lebensjahr als Organspenderin oder Organspender in Frage kommt. Das regt an, darüber nachzudenken, darüber zu sprechen und seinen Spendewunsch oder seine Ablehnung seinen Nächsten mitzuteilen.
Wie beeinflussen Sie die Entscheidungen im Ernstfall?
Unsere Aufgabe ist es nicht, die Leute in eine Richtung zu drängen, sondern Informationen und Erklärungen bereitzustellen. Ich persönlich kann aber anschaulich die Vorteile einer Organspende aufzeigen – ohne sie würde meine Frau heute nicht mehr leben. Sie ist lebertransplantiert.
Erzählen Sie bitte.
Als junge Frau erhielt sie die Diagnose «Polyzystische Lebererkrankung». Anfangs hatte sie keine Beschwerden, sie begannen mit den beiden Schwangerschaften. Die Leber funktionierte zwar noch, die Grösse war das Problem: Das Organ wuchs pro Woche 300 Gramm, am Schluss wog es 14 Kilo, normal sind 1.2 bis 1.5 Kilo. Im HUG hatten sie noch nie eine so grosse Leber gesehen. In den letzten Monaten vor der Transplantation konnte sich meine Frau kaum noch ernähren, weil die Leber den ganzen Bauchraum einnahm. Alle dachten, sie sei zum dritten Mal schwanger. Dabei verhungerte meine Frau beinahe – die Transplantation war die einzige Lösung, um sie zu retten.
Wie geht es Ihrer Frau heute?
Für sie war 2010 der Beginn eines neuen Lebens. Sie konnte wieder länger als 10 Minuten stehen und Treppen laufen. Drei Wochen nach der Transplantation kehrte sie wieder als Ärztin für Innere Medizin in ihre Privatpraxis zurück. Sie lebt heute abgesehen von der Immunsuppression ein normales Leben. Das Reisen – ihre grosse Leidenschaft – lässt sie sich nicht nehmen, lieber nimmt sie 15 Impfungen in Kauf, um etwa nach Namibia zu reisen.
Letztes Jahr gab es in Ihrem Organspendenetzwerk 45 DCD-Spenden und 38 DBD-Spenden (siehe Box unten). Nimmt der Anteil DCD-Spenden weiter zu?
Davon gehe ich aus. Die DBD-Spenden im direkten Hirntod zum Beispiel infolge eines Schädel-Hirn-Traumas nehmen ab, weil bei uns die Sicherheit steigt. Die Autos schützen die Fahrer besser und wir fahren nur noch mit Helm Ski, Velo und Trottinett. Dennoch sind die Verletzungen oftmals derart gravierend, dass die Behandlung aufgrund aussichtsloser Prognose abgebrochen wird. Technische Weiterentwicklungen ermöglichen es heute, den Organspendewunsch einer verstorbenen Person auch nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand zu erfüllen.
Wie lässt sich das Spendevolumen sonst noch erhöhen?
Nebst der Einführung der erweiterten Widerspruchsregelung helfen uns weitere technische Möglichkeiten: Die extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) entspricht technisch einer Herz-Lungen-Maschine und kann sowohl die Funktion der Lunge als auch diejenige des Herzens übernehmen. Es ist ein System, das ausserhalb des Körpers Blut mit Sauerstoff anreichert und Kohlendioxid entfernt, um Patienten mit schweren Atem- oder Herzproblemen das Leben zu retten, indem der lebensbedrohliche Zustand mit dieser Maschine überbrückt werden kann. Dieses Prinzip kommt auch in der Organentnahme zum Einsatz, um die Organe nach dem Tod des Patienten mit Sauerstoff und Blut zu versorgen. Man spricht von einer normothermen regionalen Perfusion (NRP). Dadurch können sich die Organe nach dem Tod des Patienten erholen, was bessere Ergebnisse vor allem in der Lebertransplantation ermöglicht, aber auch bei den Nieren. Die Anzahl der Organspender ist ein wichtiger Faktor, aber auch die Qualität der entnommenen und transplantierten Organe ist von entscheidender Bedeutung. Wenn meine Frau heute lebt und es ihr so gut geht, liegt das auch daran, dass die Leber, die ihr transplantiert wurde, in einem sehr guten Zustand war.
Wird NRP schon in der ganzen Schweiz eingesetzt?
2017 waren wir in Genf die ersten, Zürich will nächstes Jahr nachziehen. Führend sind Spanien, Frankreich, England, Belgien, die Niederlande und die USA. Zurzeit können wir in der Schweiz Leber und Nieren mit NRP behandeln und auch die Lunge entfernen. Zusammen mit Swisstransplant denken wir über eine mobile NRP-Gruppe nach, mit der wir in die Spitäler zu den Organspenderinnen und Organspendern fahren, um auch ausserhalb von Genf eine Entnahme unter NRP zu ermöglichen. Für die Zukunft ist meine Vision, das System am ganzen Körper ausser dem Gehirn anzuwenden. Das fordert Überzeugungsarbeit, Expertise durch genügend Erfahrung und die entsprechende technische Infrastruktur.
Sehen Sie weitere Ansätze, um den Menschen auf der Organ-Warteliste zu helfen?
Als Verantwortlicher eines Netzwerks ist es mir sehr wichtig, die Erkennung von potenziellen Organspendern und Organspenderinnen zu fördern mit optimalen Prozessen zwischen Spendekoordination, Intensivpflege, Notfall und anderen Bereichen in den Spitälern. Weiter gibt es erste Überlegungen, den begleiteten Suizid mit der Organspende zu kombinieren. Es gibt Menschen, die selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchten und den Wunsch haben, ihre Organe zu spenden. In der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) finden zurzeit Diskussion zu diesem Thema statt.
Was empfinden Sie als das Schwierigste in Ihrem Beruf?
Wenn es eine Patientin oder ein Patient nicht schafft, frustriert das. Handkehrum haben wir am HUG nur 6% Sterblichkeit. Das heisst, in 94% der Fälle verlässt man die Intensivstation nach einem schwerwiegenden medizinischen Problem lebend. Das ist ziemlich befriedigend. In einigen Fällen gelingt das leider nicht – wir sind nicht stärker als die Natur
Unterschied Organspende im Hirntod (DBD) und Organspende im Hirntod nach Herz-Kreislauf-Stillstand (DCD)
Grundvoraussetzung für eine Organspende ist immer die Feststellung des Hirntods, das heisst, sämtliche Hirnfunktionen inklusiv des Grosshirns und des Hirnstamms sind irreversibel ausgefallen. Bei der DBD-Organspende ist die Patientin oder der Patient hirntot. Das heisst, das Gehirn ist komplett und unwiderruflich ausgefallen. Es ist nicht mehr durchblutet. Bei der DCD-Organspende hat die Patientin oder der Patient eine aussichtslose Prognose, die zu einem Therapieabbruch führt. Das Gehirn fällt erst nach dem Stillstand des Herzens komplett und unwiderruflich aus.
PD Dr. med. Raphaël Giraud
arbeitet seit 2001 am Universitätsspital Genf (HUG). Der Leitende Arzt Intensivpflege führt seit 1. Juni 2023 das Programme Latin de Don d’Organes (PLDO) – das Organspendenetzwerk der Romandie und des Tessins. In seiner spärlichen Freizeit fährt der 49-jährige Wahlschweizer gerne Ski, geniesst die Berge im Ferienhaus in seiner Heimat Frankreich oder trinkt einen guten Schluck Wein mit Freunden – es kann ein guter Burgunder, ein Genfer (der laut ihm von Jahr zu Jahr besser wird) oder auch gerne ein St. Galler Pinot Noir sein. Raphaël Giraud lebt mit seiner Frau und den beiden Töchtern (18- und 20-jährig) in Genf.
Funfact: Seine Eltern und die Eltern seiner Frau kannten sich früher nicht, heirateten aber beide innerhalb einer Woche in derselben Kirche in Saint-Étienne im Departement Loire (Frankreich).